- Zeiterleben im interkulturellen Vergleich
- Zeiterleben im interkulturellen VergleichWährend für alle Menschen die Grundbestimmungen des Zeiterlebens gleichermaßen gelten, etwa die Unterscheidung von gestern, heute und morgen, nimmt die soziale Zeit aufgrund der Fähigkeit, Symbole zu bilden, in unterschiedlichen Kulturen und Epochen verschiedene Ausprägungen an. Die differierenden Vorstellungen von Geschichte wiederum sind Ausdruck jeweils anderer Bedürfnisse und ihrer Interpretationen. Die Ereignisse können nach unterschiedlichen Kriterien, Intentionen und Wertungen verknüpft werden, sodass die Zeit in verschiedenen Epochen und Kulturen eine andere Form annimmt.Zeit wird im Kontext einer mythischen oder religiösen Weltsicht anders erlebt als im Rahmen der naturwissenschaftlich-mathematischen. Diese Unterschiede lassen sich weder durch bloße Denkgewohnheiten erklären noch durch den Rückgriff auf einen an den Naturwissenschaften orientierten Zeitbegriff auflösen. Die verschiedenen Modifikationen der zeitlichen Ordnung berücksichtigen unterschiedliche Aspekte der Erfahrung und der Intelligenz.Die linear fortschreitende Zeit der modernen IndustriegesellschaftenDer entscheidende Impuls, die Weltgeschichte als einen linearen Fortschritt zu deuten, ging vom Christentum aus. Die Inkarnation Jesu Christi wird als Zeitenwende interpretiert. Da sich mit ihr die Hoffnung auf die Erlösung der Welt verbindet, werden alle Ereignisse auf ein letztes Ziel bezogen, das ihnen ihren Sinn verleiht. Doch die Zeitdauer, die bis zu diesem Ziel verstreicht, wird nicht nur gemessen, sondern auch bewertet: Vom Ende der Zeiten gesehen, erhält die Geschichte dann einen Sinn.Mit der Aufklärung vollzog sich eine Säkularisierung der Idee des Fortschritts. Ihre rasante Dynamik konnte sie allerdings nur durch die Ablösung von den Rhythmen der Natur und der sakralen Ordnung entfalten. Aller qualitativen Unterschiede beraubt, konnte die Zeit nun einer von den Menschen selbst gewählten Zukunft entgegenstreben. Durch die Verbindung der Hoffnung auf einen humanitären Fortschritt mit dem technologischen wurde eine immer exaktere Koordination der sozialen Zeit notwendig. Heute können Menschen mit Computern an verschiedenen Orten und zu beliebigen Tageszeiten in einem virtuellen Raum zusammengeführt werden, um gemeinsam am selben Dokument zu arbeiten. Damit ist es möglich geworden, einen für alle Menschen gleichermaßen gültigen Zeithorizont technisch herzustellen.Die zyklisch-kreisende Zeit in der indischen PhilosophieDie indische Vorstellung von Zeit ist geprägt von der Lehre von den vier Yugas, den Weltaltern. Am Anfang steht das Ktayuga, ein Zeitalter höchsten menschlichen Glücks, sittlicher Vollkommenheit und Gerechtigkeit. Die Menschen leben ohne Zwang in Einklang mit dem kosmischen Gesetz. Die Brahmanen widmen sich den religiösen Pflichten, die Kriegerkaste denen des Herrschers, die Kaufleute beschäftigen sich mit Ackerbau und Handel und die Sudras dem Dienst an den höheren Kasten. Doch die Zeiten verschlechtern sich zunehmend. Im Tretyuga ist die Fähigkeit, die religiösen Pflichten einzuhalten, bereits geschwächt und muss durch Kulthandlungen und Opfer gestützt werden. Auch die Lebenszeit nimmt ab. Im dritten Zeitalter, dem Dvparayuga, werden die Menschen von Leidenschaften befallen, sie werden gewinnsüchtig und heimtückisch. Den Tiefpunkt der Folge von vier Weltaltern bildet das Kaliyuga, in dem wir nach dieser Berechnung leben. Die Lebenszeit verkürzt sich noch einmal, die Intelligenz nimmt ab und das Streben nach Wohlstand wird zum Lebensziel; Bedingung des Erfolgs sind Falschheit und Betrug.In für menschliche Maßstäbe unvorstellbar langen Zyklen wiederholt sich die Abfolge der Zeitalter immer wieder. Sie ist wiederum eingebettet in den Zyklus der Schöpfung und Zerstörung des ganzen Kosmos. Unter einer kosmischen Perspektive betrachtet, hat nichts, was in der Zeit geschaffen wurde, Bestand. Die Geschichte einzelner Völker und Staaten, ja, sogar die der ganzen Menschheit wird unausweichlich immer wieder zerstört. Dadurch gibt es in der Zeit letztlich keinen Fortschritt.Die Zeit ist im indischen Denken eine Seinsmacht, die alles schafft und alles wieder zerstört, der unablässige Strom des Werdens und Vergehens. Nur die Zeit selbst ist ohne Anfang und Ende, sie wird nicht geboren und altert nicht. Die Zeit erhält die Ordnung des Kosmos: Die Lebewesen brauchen Zeit, um ihre Ziele zu verfolgen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und Erlösung zu erlangen. Ihre Taten werden wiederum Wirkungen nach sich ziehen, die zu Saatkeimen für neues Karma werden, das sich nur in einem zeitlichen Prozess entfalten kann. Die Menschen selbst schaffen die Bedingungen ihrer zukünftigen Existenzformen. Erst wenn alle Rückwirkungen getilgt sind, kann man der unabsehbaren Folge von Geburten und Toden entrinnen und Erlösung (Moksha) erlangen. Die Konsequenz aus der Endlosigkeit des Zeitverlaufs ist daher der Verzicht auf die Welt. Das Überschreiten der Zeit wird zum Lebensziel schlechthin und als Übergang vom Unwissen zum Wissen, zur Erleuchtung, verstanden. Damit enthüllt sich die Ewigkeit als der Seinsgrund der Zeit.Trotz der Abwertung des geschichtlichen Handelns hat vor allem die Bhagavadgita, ein heiliges Epos, ein Modell des Handelns entwickelt, das bis ins 20. Jahrhundert wirksam blieb und für Mahatma Gandhi leitend war. Nach dem Karma-Yoga, dem Weg des Handelns, muss man seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen — allerdings losgelöst von eigenen Wünschen und Begierden. Nur diese geläuterte Form des Handelns erhält die Ordnung des Kosmos und ermöglicht die Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten.Die eschatologisch ausgerichtete Zeit in der islamischen KulturNoch heute wird der Alltag der Muslime von der religiösen Zeiteinteilung bestimmt: Fünfmal am Tag ertönt in allen Städten bei einem bestimmten Sonnenstand der Ruf zum Gebet, der die gewöhnliche Arbeit unterbricht und die Muslime überall auf der Welt vereint. Nicht die Zeitplanung der Menschen, sondern die universale Zeit Gottes umfasst und strukturiert das Leben, die einzelnen Tage wie das ganze Jahr. Die Einteilung der Zeit orientiert sich am Mond, der als männlich gilt. Der Tag beginnt am Abend. Auch die islamischen Feste werden durch das erste Erscheinen der Mondsichel in der Abenddämmerung eingeleitet. Lediglich die fünf Gebete, die den Tagesrhythmus bestimmen, sind an den Sonnenstand geknüpft. Die fünf Gebetszeiten begrenzen die Stationen der Sonne zwischen dem Untergang des Mondes im Morgengrauen und seinem Aufgang in der Abenddämmerung. Gott selbst, der Herr der Zeit, hat diese Einteilung geboten.Die Zeit, die die Ordnung Gottes enthüllt, verläuft weder linear-progressiv noch zyklisch: Sie bildet eine Konstellation von Augenblicken, die einer göttlichen Berührung entspringen — und den Menschen verwandeln. Es gibt keinen Fortschritt in der Zeit, sondern nur eine wachsende Klärung derselben Wahrheit. Diese war einmal, bei Mohammed, dem Siegel der Propheten, vollkommen enthüllt. Durch eine Rückkehr zum wahren Glauben bildete Mohammed eine Gemeinschaft von Gläubigen, die in der Erwartung des letzten Augenblicks, des jüngsten Gerichts, verbunden ist.Priv.-Doz. Dr. Regine KatherGrundlegende Informationen finden Sie unter:Zeitbewusstsein und ZeiterlebenReheis, Fritz: Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung. Darmstadt 21998.Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen — Analysen — Konzepte, herausgegeben von Antje Gimmler u. a. Darmstadt 1997.
Universal-Lexikon. 2012.